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Geschrieben von [robson] am 04.07.2007 um 12:46:

  Eure Lieblingsgedichte?

Da hier ja Einige nicht nur Fantasyschundromane etc. lesen, wie steht's denn mit Lyrik aller Art?
Wo sind die Anthologienwälzer, die nicht einschlafen können ohne sich an den lyrischen Ergüssen vergangener Jahrhunderte geweidet zu haben?
Her mit euren Lieblingsgedichten oder überhaupt Gedichten, die ihr bemerkenswert findet!

Ich mache mal den Anfang mit Heines "Mein Herz, mein Herz ist traurig"

Zitat:
Mein Herz, mein Herz ist traurig,
Doch lustig leuchtet der Mai;
Ich stehe, gelehnt an der Linde,
Hoch auf der alten Bastei.
Da drunten fließt der blaue
Stadtgraben in stiller Ruh‘;
Ein Knabe fährt im Kahne
Und angelt und pfeift dazu.
Jenseits erheben sich freundlich,
In winziger, bunter Gestalt,
Lusthäuser und Gärten und Menschen
Und Ochsen und Wiesen und Wald.
Die Mägde bleichen Wäsche,
Und springen im Gras herum;
Das Mühlrad stäubt Diamanten,
Ich höre sein fernes Gesumm.
Am alten grauen Turme
Ein Schilderhäuschen steht;
Ein rotgeröckter Bursche
Dort auf und nieder geht.
Er spielt mit seiner Flinte,
Die funkelt im Sonnenrot,
Er präsentiert und schultert -
Ich wollt‘, er schösse mich tot.



Geschrieben von Mulciber am 04.07.2007 um 13:26:

 

Ich lese sehr gerne Gedichte, ganz oben auf meiner Liste stehen Kästner, Morgenstern, Ringelnatz, Eugen Roth, Rilke, Hesse, Heine, Goethe, Nietzsche, Kinski, Erich Fried, Bukowski, Nooteboom, Heym, Benn, Hölderlin (ja, und dann Namen die mir spontan nicht einfallen) und alles im Bereich Dadaismus.
Ich sammle dabei sehr gerne Reclam Büchlein.

Zitat:
Eugen Roth - Kleine Ursachen

Ein Mensch - und das geschieht nicht oft -
Bekommt Besuch, ganz unverhofft,
Von einem jungen Frauenzimmer,
Das grad, aus was für Gründen immer -
Vielleicht aus ziemlich hintergründigen -
Bereit ist, diese Nacht zu sündigen.
Der Mensch müßt nur die Arme breiten,
Dann würde sie in diese gleiten.
Der Mensch jedoch den Mut verliert,
Denn leider ist er unrasiert.
Ein Mann mit schlechtgeschabtem Kinn
Verfehlt der Stunde Glücksgewinn,
Und wird er schließlich doch noch zärtlich,
Wird er's zu schwach und auch zu bärtlich.
Infolge schwacher Reizentfaltung
Gewinnt die Dame wieder Haltung
Und läßt den Menschen, rauh von Stoppeln,
Vergebens seine Müh verdoppeln.
Des Menschen Kinn ist seitdem glatt -
Doch findet kein Besuch mehr statt.



Geschrieben von inner_conflict am 04.07.2007 um 13:39:

 

Ich habe mich schon länger nicht mehr mit Gedichten beschäftigt, aber in guter Erinnerung geblieben sind mir


Erich Fried, dem es gelungen ist, so vieles in so wenigen Worten zu sagen (auch wenn seine politischen Ansichten streitbar sind).

Zitat:
Angst und Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel



Georg Trakl, dessen ganzes Werk von einer abgrundtiefen Melancholie durchzogen ist.

Zitat:
Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.



Charles Beaudelaire, den jeder kennen wird ("Die Blumen des Bösen")

Zitat:
Der Feind

Mein Kinderland war voll Gewittertagen,
Nur selten hat die Sonne mich gestreift,
Und so viel Bluten hat der Blitz zerschlagen,
Dass wenig Früchte nur mein Garten reift.

Nun kommt der Herbst, – ich muss zur Harke greifen,
Die Erde sammeln, die verwüstet schlief,
In die der Regen Risse grub und Streifen
Und manche Holde wie ein Grab so tief.

Doch ob den Blumen, die erhofft mein Träumen,
In dieses wild zerwühlten Ackers Räumen
Die Wundernahrung wird voll Glut und Kraft?

O Schmerz! die Zeit trinkt unsren Lebenssaft,
Der dunkle Feind, der uns am Herzen zehrt
Und sich von unsrem Blute stärkt und mehrt!



Geschrieben von Pagan am 04.07.2007 um 13:45:

 

Erich Fried:

Zitat:
Anleitung zur Erhaltung der Schlagkraft

Feinde
sind zu weit entfernt
und meistens
zu gut gesichert
Drum ernenne Freunde
zu Feinden
und schlag ihnen
die Fresse ein
Machst du sie dadurch
erfolgreich
zu Gegnern
so kannst du dich rühmen:
Ich war der erste
der aufstand
und losschlug
im Kampf gegen sie


Zitat:
Sie

Sie frißt ihre Kinder
sie trinkt das Blut ihrer Toten
sie predigt den Tauben
sie kennt keine höheren Werte
Sie vergißt ihren Weg
sie wankt von Verrat zu Verrat
von Fehler zu Fehler
sie schläft in den Niederlagen
Daß sie unnötig ist
lernt jedes Kind in der Schule
daß das Volk sie nicht will
hat das Volk sich endlich gemerkt
Daß sie nicht siegen kann
ist zehnmal genau bewiesen
Die es bewiesen haben
schlafen nicht gut
Die an sie glauben
sind manchmal müde von Zweifeln
Einige die sie hassen
wissen sie kommt.


Frage: Wer ist sie? zwinkert

Apropos: DaDaismus - ich habe noch ein Gedichtsband zuhause, welches an DaDaismus nicht zu überbieten ist. Werde heute abend mal da was raussuchen ...

[Edit] Ich habe mal ein "lesbares" von Ernst Jandl rausgesucht:

Zitat:
schulschwül

um kühl
zu fünft
zerknüll
den rumpf

strümpfe
zupfen

stuhl
der blätter
geschult
befühlt

zapfen


grosses Grinsen



Geschrieben von casi am 04.07.2007 um 16:30:

 

STUFEN

(von Hermann Hesse)

Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and're, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen!
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewohnheit sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(Hermann Hesse)



Geschrieben von sarain am 04.07.2007 um 16:34:

 

Zitat:


Erste Schritte

Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
Klein wird dein letzter sein.
Den ersten gehn Vater und Mutter mit,
Den letzten gehst du allein.

Seis um ein Jahr, dann gehst du, Kind,
Viel Schritte unbewacht,
Wer weiß, was das dann für Schritte sind
Im Licht und in der Nacht?

Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt,
Groß ist die Welt und dein.
Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt
Wieder beisammen sein.

Albrecht Goes




Zitat:

Das Eisenbahngleichnis (1 von 7)

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Erich Kästner




Geschrieben von Schattenherz am 04.07.2007 um 16:56:

 

Zitat:

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den anderen,
Jeder ist allein.

Voll von Freuden war mir die Welt,
Als noch mein Leben Licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkle kennt,
Das unentrinnbar und leise.
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist einsam sein.
Kein Mensch kennt den anderen,
Jeder ist allein

[Hermann Hesse]




Geschrieben von Mulciber am 04.07.2007 um 17:05:

 

Zitat:
Original von inner_conflict
Erich Fried, dem es gelungen ist, so vieles in so wenigen Worten zu sagen (auch wenn seine politischen Ansichten streitbar sind).


Kann ich nur empfehlen sich Geschichten aus seinem Leben - erzählt von ihm selbst - anzuhören, habe ich irgendwo hier als audiobook herumliegen, nachdem es mir mein ehemaliger Mathelehrer (der hier gegrüßt sei, auch wenn er es wohl nicht lesen wird) gab.

@Pagan, Jandl ist wunderbar.

Möchte als Kunstform noch die konkrete Dichtung anfügen (wenn wir gerade bei Jandl sind)



An solch Dingen erfreut sich meine Seele.



Geschrieben von [robson] am 05.07.2007 um 16:22:

 

@Pagan
wer sie ist? Mir kommen da so Sachen wie "Freiheit", "Revolution", "Macht" usw. in den Sinn, ist aber wahrscheinlich auch egal, sapere aude kann auch Intention sein.

@MulDaKul
Stichwort: Nietzsche; absolut, seine Dichtungen sind total unterbewertet und zu Unrecht fast unbeachtet trotz seines großen Namens geblieben, das meine ich v.a. für die Dionysos-Dithyramben, die klassische Bildung hat doch deutliche Spuren hinterlassen, aber es ist schon imposant, wie er v.a. metrisch mit der Gattung Dithyrambos (bzw. was er und seine Zeitgenossen darunter verstanden) umgeht, seine Wortgewalt ist aber, denke ich, unumstritten, mir persönlich gefällt der dritte Teil von "Die Sonne sinkt" (in Anthologien meistens als eigenes Gedicht unter dem Titel "Heiterkeit, güldene, komm!") am besten:

Zitat:
Heiterkeit, güldene, komm!
du des Todes
heimlichster süssester Vorgenuss!
- Lief ich zu rasch meines Wegs?
Jetzt erst, wo der Fuss müde ward,
holt dein Blick mich noch ein,
holt dein Glück mich noch ein.

Rings nur Welle und Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue Vergessenheit,
müssig steht nun mein Kahn.
Sturm und Fahrt - wie verlernt er das!
Wunsch und Hoffnung ertrank,
glatt liegt Seele und Meer.

Siebente Einsamkeit!
Nie empfand ich
näher mir süsse Sicherheit,
wärmer der Sonne Blick.
- Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?
Silbern, leicht, ein Fisch
schwimmt nun mein Nachen hinaus ...


@inner_conflict
Die Beaudelaire-"Übersetzung" ist ja gruslig, da geht ja die ganze Leichtigkeit des Originals flöten *hüstel*



Geschrieben von Pagan am 05.07.2007 um 16:24:

 

Die Revolution kam mir auch als Erstes als Gedanke. Wegen "... frisst ihre Kinder".


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